Analyse des Textes von "Für immer und dich"

Die Analyse begann ich auf Bitten einer Schülerin, die im Deutschunterricht die Aussage des Liedes herausarbeiten sollte und mich um Hilfe bat. Nachdem ich mir Gedanken gemacht hatte und sie mir hilfreiche Anregungen (siehe Regenbogen) gab, beschloß ich, meine Notizen zu vervollständigen und hier zu veröffentlichen.
Die Analyse ist nicht Gottes Wort, meine Interpretation nicht heilig und andere Deutungen durchaus zugelassen. Es soll ein Versuch sein herauszufinden, wie tief der Sinn eines Liedes sein kann, wenn es sich auch zuerst wie ein schnell dahingeschriebener Schlagertext anhören kann.
Damit alles ganz korrekt ist, noch der Hinweis, daß ich natürlich immer das lyrische Ich meine, wenn ich "er" oder "Rio" schreibe.
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Ich sing für Dich, ich schrei für Dich,
ich brenne und ich schnei für Dich.
Vergesse mich, erinner mich,
für Dich und immer für Dich.
Für immer und Dich.

Ich lach für Dich, wein für Dich,
ich regne und ich schein für Dich.
Versetz die ganze Welt für Dich,
für Dich und immer für Dich.
Für immer und Dich.

Refrain:
Für Dich und immer für Dich.
Egal, wie du mich nennst,
egal wo du heut pennst.
Ich hab so oft für Dich gelogen
und ich bieg den Regenbogen.
Für Dich und immer für Dich.
Für immer und Dich.

Ich rede für Dich, schweig für Dich,
ich gehe und ich bleib für Dich.
Ich streich den Himmel blau für Dich,
für Dich und immer für Dich.
Für immer und Dich.

Refrain:

Ich sehe für Dich, hör für Dich,
ich lüge und ich schwör für Dich.
Ich hol den blauen Mond für Dich,
für Dich und immer für Dich.

Refrain:

Wo immer Du bist!

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Zuerst zur Struktur des Liedes. Diese ist einfach gehalten und verändert sich im Laufe des Liedes nicht. Es besteht aus vier Strophen und einem Refrain, der insgesamt drei Mal auftritt.
Die Strophen sehen schematisch ungefähr so aus:

Ich ___a___ für Dich, ich ___b___ für Dich,
ich ___c___ und ich ___d___ für Dich.
Ich _______e________ für Dich,
für Dich und immer für Dich.

Die Satzteile a,b,c und d sind einfach Verben, wobei a-b und c-d meist Gegensätze oder zumindest ganz andersartige Tätigkeiten sind (lügen / schwören, brennen / schneien, sehen / hören etc.) Außerdem reimen sich b-d.
Die Tätigkeiten, die er in Satzteil e beschreibt, sind meist umfassender (versetz die ganze Welt / streich den Himmel blau / hol den blauen Mond).
Für die erste Strophe gilt das nur teilweise, aber etwas künstlerische Freiheit darf Rio wohl zugestanden werden.
Die "Reste", die außer den Verben übrig bleiben, beschränken sich auf "ich" und "für dich". Dadurch wird deutlich, was Rio aussagen möchte: was er alles für die besungene Person tun würde. Eine andere Deutung wäre: daß er alles, was er tut, für diese Person macht.
Die Schematik zeigt, daß dem Lied trotz der einfachen Erscheinungsweise eine tiefe Struktur zu Grunde liegt.

Gleiches gilt aber auch für den Inhalt.
Es fängt mit den ersten Worten an: "ich sing für dich, schrei für dich". Genau das, was er aussagen möchte, setzt er gleich in die Tat um: "Für dich singe und schreie ich". Also singt er ein Liebeslied, schreit zum Ende fast. Ein Beweis, daß er es ernst meint, mit dem was er sagt.

So geht es weiter. "ich vergesse mich, erinner mich". In diesen fünf Worten stecken gleich mehrere Aussagen. Erstens heißt es, daß er sich ganz seiner Liebe hingeben würde, sich praktisch selbst vergißt und nur für ihn (Rio war bekennender Schwuler) lebt. Da das aber der anderen Person Macht über ihn einräumen würde, korrigiert er sich sofort, indem er sich wieder erinnert, wer er eigentlich ist. In dem alten Ton Steine Scherben Song "Komm schlaf bei mir" erklärt er es mit anderen Worten, aber der gleichen Botschaft: "Ich bin nicht über dir, ich bin nicht unter dir, ich bin neben dir: Komm schlaf bei mir". Das zeugt von einer tiefen Achtung der Menschwürde und genau das zeichnet Rio aus: Er meint, was er singt. Wenn er sich vergißt, dann will er trotzdem keine Macht auf sich ausüben lassen und erinnert sich wieder.
"ich lach für dich, wein für dich, ich regne und ich schein für dich". Das kann heißen, daß Rio in allen Gefühlslagen zu seiner Liebe stehen will. Bei der Hochzeit heißt es "willst du bla, blah, in guten wie in schlechten Zeiten, bla, bla..." Daran erinnert diese Stelle, in allen Zeiten, "bei Regen oder Sonnenschein" zusammen sein.
Außerdem können diese Stellen auch als Hilfestellung gedacht sein. Wenn du keine Träne mehr hast, weine ich für dich, wenn du frierst, brenne ich für dich - kurz: ich bin immer für dich da.

Die Stellen wie "ich versetz die ganze Welt für dich" oder "ich bieg dir noch nen Regenbogen" könnten übersetzt werden mit "ich würde das Unmögliche möglich machen". Ironischerweise singt er auch "ich streich den Himmel blau für dich". Der Himmel ist schon blau, also hat er das Unmögliche für seine Liebe schon wahr gemacht.
Obwohl: Der Himmel muß nicht immer blau sein: er kann zum Beispiel auch grau sein oder von Wolken verhangen. Aber dann wird er eben blau angemalt.
"Ich hol den blauen Mond für dich" kann eine Anspielung auf die verschlüsselte Sprache der Romantik sein, in der die "blaue Blume" als Symbol für eine unerfüllte romantische Sehnsucht steht. "Mond" statt "Blume" vielleicht deshalb, weil es besser in den Sinnzusammenhang von "nach den Sternen greifen" paßt, was ja soviel bedeutet wie Unerreichbares wahr machen wollen. Der "blaue Mond" ist aber auch der Name für einen zweiten Vollmond im selben Kalendermonat. Das ist sehr selten, weil der erste Vollmond ja auf einen der ersten drei Tage des Monats fallen muss. Er soll traditionell aber auch der Tag der Liebenden sein (deshalb viele englische Songs, in denen der "Blue Moon" vorkommt). Das Ergebnis bleibt das Gleiche: Rio will für die Liebe Unerreichtes wahr machen.

Weiter singt Rio: "Ich sehe für dich, hör für dich". Das Sehen und Hören könnte zusammen mit dem Brennen und Schneien (Tastsinn) so gesehen werden, daß er sich mit allen Sinnen seiner Liebe widmet, mit den Sehen, Hören, Fühlen ja sowieso und so weiter. Die anderen Sinne werden nicht explizit aufgezählt, aber das kann ja künstlerische Freiheit sein. "Ich rieche für dich" klänge vielleicht nicht so beeindruckend. (Dieser Scherz sei mir erlaubt.)

Natürlich spielt der Refrain eine weitere wichtige Rolle. "Für dich, egal, wie du mich nennst, egal, wo du heut pennst". Das zeigt die Priorität, die er sich selbst setzt. Erst besingt Rio die Hingabe, mit der er seine Liebe beweisen will und dann erst erwähnt er, daß es ihm sogar egal ist, ob sie erwidert wird. Gleichzeitig ist der Refrain, selbst bei erwiderter Liebe ein Treuebeweis. Ich liebe dich, auch wenn du nicht treu bist. Sein Freund könnte ihn beschimpfen, fremdgehen, das ändert nichts an seiner Liebe zu ihm. Also besonders tiefe Liebe. Auch hier faßt er das in einem Ton Steine Scherben Song besser zusammen. In "Laß uns ein Wunder sein" (wahrscheinlich das schönste, weil anarchistischste, Liebeslied überhaupt) singt er:
"Ich will dich aber nicht bekehrn, dich erziehn oder belehrn, daß du mit niemand anderem pennst, wenn ich nicht bei dir bin flennst, deine Freunde nicht mehr kennst und wenn ich dich rufe rennst." Im Klartext: "Unsere Liebe ist so groß, daß wir sie teilen können." Zumindest sollte sie das bei beiden sein, damit die Beziehung hält. Dasselbe gilt für die Stelle "ich rede und ich bleib für dich".
Die "egal, wie du mich nennst"-Stelle kann auch auf eine heimliche Liebe hinweisen. Die angebetete Person nennt Rio einfach einen Freund, Kumpel oder ähnliches, für ihn ist es aber mehr.

Rio Reiser war sehr belesen und kannte die biblischen Geschichten sehr genau. Das wird deutlich, wenn er singt "ich bieg dir noch ein Regenbogen". Noch einen? Der erste, biblisch überlieferte Regenbogen wurde von Gott als Verbindung zwischen Himmel und Erde geschaffen. Das sollte den Bund zwischen Gott und allen Lebewesen auf der Erde besiegeln. Außerdem war es für Gott ein Zeichen der Erinnerung, nie mehr eine Sintflut kommen zu lassen. Jedesmal, wenn der Regenbogen am Himmel erscheint, möchte Gott daran erinnern und zeigen, daß er sich noch immer mit der Erde verbunden fühlt.
Der Regenbogen also als Zeichen der Hoffnung, die gleichzeitig unendlich und immerwährend ist. Auch Greenpeace nutzen ja dieses Zeichen. Für das Lied kann das bedeuten, daß Rio seiner Liebe auch so ein unvergängliches, immer wiederkehrendes Zeichen setzen will. Ein Zeichen seiner Hoffnung und ein Zeichen für seine Liebe, daß er ihr nie Schaden zufügen will.

Um die Analyse noch komplizierter zu machen, gibt es zwei entscheidende Stellen, die dem Lied je nach Bedarf einen ganz anderen Dreh geben können.. "Ich hab so oft für dich gelogen" und "ich lüg für dich". Dadurch verringert Rio den Ernst des Liedes und nimmt den Pathos teilweise raus. Denn alles, was er singt, kann auch als Lüge gesehen werden. Ich singe für dich, ich lüge für dich, also ich singe Lügen für dich. Andererseits kann er auch meinen: Ich tue wirklich alles für dich, auch unmoralische Dinge. Ich bin so verliebt, daß ich alles sagen, hören, sehen würde, damit du wiederkommst.
Wiederkommst? Ja, denn wichtig ist auch der letzte Satz, den er nach dem zweiten Refrain murmelt: "Wo immer du bist". Das kann heißen, daß er gar nicht weiß, wo seine Liebe momentan ist, weil sie ihn zum Beispiel verlassen hat. So gesehen will er vielleicht nur ausdrücken, daß er alles tun würde, wirklich alles, damit er zurückkommt, auch, wenn er woanders gepennt hat. Der Song wäre dann kein einfaches Liebeslied, sondern ein ganz subtiles Liebeskummerlied.
Oder das "Wo immer du bist" ist einfach nur ein weiterer Beweis für die Größe seiner Liebe. Ich liebe dich, auch wenn du gar nicht hier bist. Womit wir wieder bei der Treue wären.

Wie immer sollte der Text nicht völlig losgelöst vom Kontext stehen.
Auf der CD heißt der erste Titel "Alles Lüge". Das erinnert gut an den Ernst seiner dahingeschmachteten Botschaften.
Zu denken geben sollte folgende Stelle dieses ersten Titels:
"Selbst wenn du mich fragst, ob ich dich liebe und ich sag ja, weiß ich manchmal nicht genau, ist das nun Lüge oder wahr. Weil ich oft gar nicht mehr weiß, was ist das: Liebe."
Deshalb hält Rio es für angebrachter, aufzuzählen, was er alles für "dich" tun würde statt zu sagen "Ich liebe dich".
Interessant ist auch der Song "Laß mich los" auf demselben Album. Kurz gesagt geht es darum, daß er erdrückt wird von der Liebe eines anderen Menschen und deshalb fordert "Laß mich los". Das Lied ist sozusagen das Gegenstück zu "Für immer und dich", indem er einfach die Seiten wechselt. Ich tue alles für dich, wieso tust du alles für mich?

Übrigens ist dieses "immer" und "für immer und dich" nicht nur ein billiges Wortspiel. Zum einen heißt es, daß er seine Liebe ewig lieben will (ich mag es nicht, "treu sein" zu schreiben, weil er die Treue ja als nicht so wichtig ansah, "penn mit wem du willst, aber komm zurück zu mir"). Zum anderen ist die Reihenfolge wichtig, weil sie als Steigerung aufgebaut ist.
Ich tue alles a) für dich, b) für immer und c) für immer und dich. Die dritte Steigerung besagt nicht nur, daß er für immer zu seiner Liebe halten will, sondern auch, daß er für immer lieben will. Wen, bleibt zweitrangig. Alles besser ausgedrückt in dem Ton Steine Scherben Lied "Halt dich an deiner Liebe fest": "Wenn der, auf den du wartest, dich sitzen läßt, halt dich an deiner Liebe fest".

Noch ein Tick komplizierter wird es, wenn mal geschaut wird, ob es wirklich ein Liebeslied ist. Das Wort "Liebe" wird nicht ein einziges Mal im Lied erwähnt. Ist wirklich Liebe der Grund für die ganzen Taten, die Rio vollbringen will? Kein Zeichen davon.
Die Frage ist, ob jemand für eine "bloße" Freundschaft all das auf sich nehmen würde. Wenn dem so ist, muß das eine so schöne Freundschaft sein, daß eigentlich völlig gleichgültig ist, ob sie nun "Freundschaft" oder "Liebe" genannt wird. Vielleicht ist genau das der Grund, wieso Rio das nicht erwähnt hat.

Auch eine leicht veränderte Deutung mit vollständig anderer Aussage ist denkbar. Vielleicht ist das imaginäre "Du", was Rio besingt, ja ein Gott. Dann würde sich die Aussage verändern zu: Ich glaube an dich und halte mich an das, was du sagst. Mit dem ironischen Unterton, daß er sogar für die Richtigkeit Gottes lügen würde. Das würde auch die Stelle mit dem Regenbogen in ein anderes Licht rücken. Gott bog den Menschen den ersten Regenbogen, er biegt Gott den zweiten, als Erinnerung an denselben. Auch das dahingehauchte "Wo immer du bist" wird dann in einem anderen Sinne sofort verständlich.

So, ich höre Rio schon laut lachen. "Wenn die wüßten...", denkt er möglicherweise. Ja, wenn wir es wüßten, würden wir es nicht ergründen.

Robert Kneschke, Dezember 2000 bis Februar 2001, Update April 2002
(Danke an Regina Sommerfeld, Angelo und Dominik für Hinweise)
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