Karte

Artikelarchiv

 (42 /  325)
alle /  Interviews /  Rezension /  lange Texte /  Rio als Autor /  Bücher /  im Volltext lesbar
Zeitraum
alle /  vor 2000 /  nach 2000

Datum

00.12.1973

Medium

Kursbuch 34 (Buch)

Ausgabe

34

Seite

25-48

AutorIn

Peter Möbius

Hoffmann's Comic Teater

Kinderkultur

I. WIRKLICHKEIT UND SCHEIN

Spielzeug: Autos, Puppen, Mondlandefähren aus Blech, Roboter, Legosteine, "Mensch ärgere Dich nicht", Monopoli usw., das alles unterscheidet sich in seinem Wert für die Kinder nicht von einem Taschenmesser, einer Colaflasche, einem Filzschreiber, einer Schreibmaschine, einem Pappkarton, einer Zeitschrift. Spielzeug ist alles, was man in die Finger bekommen kann und was einem von den Erwachsenen nicht gleich wieder weggenommen wird.

Spielumwelt der proletarischen Kinder ist in beschränktem Maß die Wohnung und da fast ausschließlich, der Fernsehapparat. Spielumwelt ist das Treppenhaus, der Hof, solange man von dort nicht verjagt wird, der Keller, soweit man in ihn hinein kann. Spielwelt ist die Straße und alles, was dazugehört in einem Umkreis von etwa einem Kilometer (gerechnet von der jeweiligen Wohnung der Kinder aus).

Alle Plätze, an denen etwas passiert oder an denen etwas passieren könnte, an denen man irgend etwas Neues, was ist egal, erfahren könnte, sind beliebte Aufenthaltsorte: Abrißhaus, Häuserabriß, Neubau, U-Bahn-Station, Geschäftseröffnung, Autounfall, das Zeitungsgeschäft. Dazu kommen die "eigenen Gebiete", Plätze, an denen keine Erwachsenen in der Nähe sind, die einen stören oder verjagen können.

Das sind meistens unbebaute Ruinengrundstücke, in deren Umzäunung ein Loch gefunden wurde, das kann Wildnis am Rande der S-Bahn sein. Spielplätze existieren für die Sieben- bis Zwölfjährigen überhaupt nicht, entweder weil sie uninteressant sind, oder weil das Betreten dieser Spielplätze nur den Kleinen gestattet ist, und auf die Einhaltung dieses Gebots achten dann meistens einige Mütter oder Großmütter der Kleinen. Allerdings kann ihre Anwesenheit manchmal, wenn nirgends etwas los ist, noch die einzige Spielplatzattraktion sein, denn diese Erwachsenen bieten einen Spielanlaß, man kann sie zum Reagieren zwingen.

Diktierte Wirklichkeit

Die Wirklichkeit wird von den Kindern als diktierte Pflicht, als diktierte Aufgabe wahrgenommen. Wirklichkeit fängt für die Kinder immer dort an, wo es Strafen setzen könnte.

Die Familie regelt den Tagesablauf, die Wirklichkeit. Die älteren Geschwister als Schnellexekutive, die Mutter als Chef vom Dienst, der Vater als oberste Instanz.

Die Bedeutung nicht erfüllter Weisungen und Aufgaben oder sonstiger Verhaltensfehler im Zusammenleben wird von den Kindern an der Schärfe der verhängten Strafen abgelesen: leichte Fälle Backpfeifen, mittlere Fälle Fernsehverbot, schwere Fälle Dresche, Stubenarrest und Fernsehverbot. Jede aktive Äußerung, jede Tätigkeit, die nicht Spiel ist, können sich die Kinder nur als Auftrag oder als Pflicht vorstellen, für deren Nichtausführung es Strafe setzt. Dieses Verhältnis von zu tuenden Dingen, von Verhalten und Verhaltensregeln zur Strafe sorgt zusammen mit anderen Mechanismen des proletarischen Alltags dafür, daß die Möglichkeit, ein Verhalten zu entwickeln, das auf eigenen Erfahrungen und Entscheidungen in der Wirklichkeit basiert, auf ein Minimum eingeschränkt bleibt.

Schule und Elternhaus sind Wirklichkeit. Alles andere ist Freizeitverhalten; Spielen ist in den Augen der Erwachsenen, der Eltern, der Bekannten und Verwandten, der Nachbarn, der Hauswartsfrau, der Lebensmittel- und Zeitschriftenhändler nichts anderes als das gute Recht der Kinder, die Zeit totzuschlagen, weil der Ernst des Lebens früh genug beginnt. Dieses gute Recht muß da eingeschränkt werden, wo es durch Lärm und Sachbeschädigung zur Belästigung der Erwachsenen wird. Die Zukunft der Kinder, und d. h. ja vor allem die berufliche Zukunft, ist eine ausgemachte Sache. Überzuckert von der Devise: So schnell wie möglich Geld verdienen, heißt diese Berufsaussicht der Klassenlage der Kinder entsprechend Dienstleistungsbetriebe, Fabrik und Bau.

Das, was von den Kindern als Wirklichkeit empfunden wird, die diktierte Wirklichkeit der Schule und des Elternhauses, eröffnet ihnen so gut wie keine Möglichkeit, zu einem Bewußtsein von der eigenen Person, von den Fähigkeiten und Möglichkeiten, die man hat, die man haben könnte, zu kommen. Die Erfolge, die ein Kind beim Spielen hat, die Erfahrungen, die es in seiner Freizeit macht, haben in der von den Erwachsenen diktierten Wirklichkeit nur eine geringe Bedeutung. Man kann mit ihnen nicht mehr anfangen, als daß man sich um diese oder jene Pflicht und Notwendigkeit herummogelt. Damit sind alle Erfahrungen, alle Lernprozesse, die fast jedes Spiel hervorbringt, im Bewußtsein der Kinder als bedeutungslos markiert, denn in der Wirklichkeit haben sie keine Perspektive. Die Wirklichkeit kann mit dem im Spiel Erlernten von den Kindern nicht verändert, sie kann höchstens kurzfristig beschwindelt werden.

Der Umgang mit dem Wünschen und Hoffen

Die Zukunft, die berufliche und alles was dazu gehört, realistisch gesehen, gehört für die Kinder in den Bereich diktierter Wirklichkeit. Die Kinder kennen sich relativ gut aus in dem, was auf sie wartet. Das ist die Zukunft der Eltern, der älteren Geschwister. Das einzige, was an dieser Zukunft noch verlocken kann, ist, später selber Geld in der Hand zu haben, selber kaufen zu können, ist die programmierte Aussicht auf die Freiheit im Kapitalismus, alles kaufen zu dürfen, wenn man das Geld dazu hat. Aber Sicherheit für ein Selbstbewußtsein kann diese Aussicht nicht geben. Dazu ist den Kindern auch zu gut bekannt, wie groß diese Freiheit des Kapitalismus ist. Die Vorstellung von reich sein endet bei der Summe 2000 Mark bar auf die Hand. Das sind die Ausmaße. Für realistische Wünsche, auf die sich realistische Aussichten aufbauen ließen, reicht die Erfahrungswelt proletarischer Wirklichkeit nicht aus. Vorstellungen von der Zukunft existieren nur in dem kompensierenden Umgang mit dem Wünschen. Zukunftsvorstellungen, Wünschen und Hoffen mit sozialer Perspektive werden von Kindesbeinen an streng getrennt von der Wirklichkeit gehalten. Es gibt eine Vielzahl von Regeln und Bräuchen, die den Umgang und das Verhältnis zum Wünschen und Hoffen regeln, Regeln und Bräuchen, die einen geradezu artistischen Umgang mit Fiktionen ermöglichen und die eine Vermengung der Wünsche und Hoffnungen mit der Einstellung zur Wirklichkeit verhindern. Denn niemand ist daran interessiert, daß die Wünsche und Hoffnungen die realen Verhältnisse und Möglichkeiten überschreiten. Träumerische Spekulationen, die das Verhältnis zur Wirklichkeit trüben, kann im proletarischen Alltag niemand gebrauchen. Denn was würde aus dem Kind oder dem Jugendlichen, die mit der Flause "vom Schuhputzer zum Millionär " ernst machen möchten? Entweder ein unerträglich asoziales Scheusal, das tatsächlich die Fähigkeiten entwickelt, über die Leichen seiner Klasse zu gehen, oder ein erbärmlicher Taugenichts und Don Quichote mit Stammplatz in der Kneipe und im Knast.

Es liegt in niemandes Interesse, in der Arbeiterklasse die Neigung zum Spekulieren zu fördern, zum Verwischen der Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion, es liegt nicht im Interesse proletarischer Eltern, ihre Kinder mit Flausen im Kopf unglücklich werden zu lassen, es liegt nicht im Interesse des Grundschullehrers, der die Aufgabe hat, seinen Schülern Klassenschranken als schicksalhafte Unfähigkeit auf der einen und schicksalhafte Befähigung auf der anderen Seite einzupauken, es liegt überhaupt nicht im Interesse dieser Ausbeutergesellschaft, den Ausgebeuteten ein Herumexperimentieren in der Wirklichkeit mit unbotmäßigen Wünschen und Hoffnungen zu erlauben, denn sollte da jemand überhaupt nicht vom Hochhinauswollen abzubringen sein, dann hat er gefälligst den dafür vorgeschriebenen und mit Schleifinstrumenten versehenen Weg zu gehen. Denn was wäre denn das für eine Spitze, an die sich jemand setzen wollte aus der Proletenklasse, ohne diese verlassen zu haben, was wären das für Eliten der Unterschicht, die es fertigbrächten, ihre gesellschaftlichen Wünsche in die Wirklichkeit, in ein realistisches Verhältnis zu bringen, ohne die dafür von der Bourgeoisie kontrollierten Wege gegangen, ohne in der Bourgeoisie gelandet zu sein?

Das darf nicht sein, das kann nicht sein, und selbst wenn es gelungen ist, solche Eliten schleunigst mittels eines Erschießungskommandos unter die Erde zu bringen, ja selbst wenn eine solche Elite seit Jahrhunderten tot ist, eine Elite, die sich heller lichter Haufen oder Kommune von Paris nannte, muß man sie den Kindern in der Schule als warnendes Beispiel dafür vor Augen halten, wohin solche Abwegigkeiten führen, nämlich zur Mordbrennerei und zur verdienten Strafe durch Abschlachten.

Im proletarischen Alltag ist es eine existentielle Notwendigkeit, Wirklichkeit und Träumerei voneinander getrennt zu halten. Für die Bürgerklasse sind die Bunthäute, die Wünsche und Hoffnungen, solange sie gut getrennt bleiben von der Wirklichkeit, in ihrem Reservat ein guter Handelspartner, und sie sind dort ungefährlich. Strikt abgeschirmt von der Wirklichkeit, können Träume und Hoffnungen nur schlecht eine gesellschaftliche Perspektive bekommen.

Illusionen

Im Mittelstand, im Kleinbürgertum sieht das Verhältnis zu den Wünschen und zu bunt ausgemalten Zukunftsvorstellungen anders aus. Denn in dieser Schicht findet man immer wieder in den märchenhaften Folien von der großen weiten Welt des Erfolges, wie sie die Bourgeoisie im Fernsehen, in der Werbung, in Zeitschriften anfeuernd schildern läßt, einige Splitter, mittels derer man sich einbilden kann, daß der Weg in diese Welt für einen selbst erreichbar ist. Kinder, die in dieser Schicht aufwachsen, wachsen in einem anderen Verhältnis zur Wunschwelt, zu bunten Zukunftsbildern auf; denn ist auch in dieser Sicht die Verwechslung von Schein und Wirklichkeit mit fatalen Konsequenzen verbunden, der materielle Rahmen, der eine gesicherte Position, eine einigermaßen brauchbare Ausbildung garantiert, ist hier gesicherter und der Gefahr, Illusionen mit Wirklichkeit zu verwechseln, steht der Vorteil gegenüber, daß die Illusion vom Aufstieg in dieser Schicht - mit dem Anschein von Realität versehen - als Anreiz für das "Fortkommen" funktioniert.

Illusionen als Verwechslung von Schein und Wirklichkeit spielen - im Gegensatz zur Arbeiterklasse - im Mittelstand, im Kleinbürgertum eine wichtige, systemerhaltende Rolle. Denn die Träume und Schäume in dieser Schicht sind eng verknüpft mit der Spekulation über die Möglichkeiten eines gesellschaftlichen Aufstiegs. Immer werden sie auf die Parallelen zur eigenen Situation hin untersucht, immer werden sie aufs eigene Leben und eine Aussichten bezogen, überall wird nach Zeichen und Hinweisen gesucht, mit denen man seine eigene Lebenssituation positiv, im Sinne der Zugehörigkeit zu den Guten, zu den Oberen, interpretieren kann, oder mit denen man sich die Aufstiegsbahn in den Himmel der oberen Zehntausend zurechtbasteln kann. Kindern aus der Mittelschicht fällt es schwerer, von einer Fiktion zur anderen zu springen, in dem Augenblick sich mit dieser Rolle zu identifizieren und im nächsten mit jener; Träume und Fiktionen werden da nicht ausgewechselt wie ein Hemd, beim Theaterspielen spielt man sich selbst, spielt man eine gesellschaftliche Rolle, von der man sich fest einbildet, sie irgendwann wirklich einzuholen, oder man findet das ganze Rollenspiel überhaupt würdelos und albern. Träume, Fiktionen, kapitalistische Märchen werden nicht so sehr als kompensierender Freiraum benutzt, sie werden gefleddert, sortiert und ausgedroschen, um den großen eigenen Traum, die persönliche Perspektive damit auszustaffieren, ihre Wahrscheinlichkeit zu beweisen, sie sind Mutmacher, Treibstoff für das eigene Fortkommen. Begleitet wird dieses Verhältnis zu den sozialen Wunsch- und Traumbildern immer wieder von der Angst, daß sich irgendwann oder ganz plötzlich alles als ein böses Erwachen entpuppen, daß sich Surrogat und Illusion als das entlarven könnten, was sie sind, dann, wenn sich grob und unwiderruflich herausstellt, daß es die eingebildeten Beziehungen zwischen Traum und erstrebter Wirklichkeit nicht gibt. Es gehört mit zur Kultur des Mittelstandes, des Kleinbürgertums, eine Vielzahl von Spekulationen, Interpretationen und Berechnungen zu konservieren und zu produzieren, in denen die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit von Aufstiegschancen und kapitalistisch kolorierten Zukunftsaussichten erwogen werden.

Es ist weniger Gegenstand des Spottes, sich total verschätzt zu haben und auf dem "alten Pisspott" - wie dem Fischer seine Frau - sitzengeblieben zu sein, als vielmehr immer wieder Gegenstand ehrgeizigen Streits, ob die jeweils vorgezeigte Trophäe des Erfolges nur ein Surrogat ist oder echtes Zeichen für bereits Erreichtes. Sind die Chromleisten und Halogenscheinwerfer, die Weißwandreifen, die Rallyemarkierungen am Volkswagen und die Erinnerungsplaketten aus Monte Carlo am Heckfenster tatsächlich ein Schritt in Richtung auf den Alfa Romeo und die Bahamas, oder sind sie nur ein schäbiger Ersatz, weil mehr nicht zustande gebracht wird?

II. SPIELZEUG

Nur zu einem ganz kleinen Teil ist Spiel das Einüben auf zukünftige Wirklichkeit eines Berufs, eines Erwachsenenlebens, selbst wenn in fast jedem Spiel, das von den Kindern unternommen wird, der Versuch steckt, etwas über die Erwachsenenwelt zu erfahren.

Spielen ist Freizeitverhalten, ist nicht anders strukturiert und motiviert als das Freizeitverhalten der Erwachsenen.

Gelernt und geübt wird im Spiel eigentlich nur, wie man seine Verhältnisse zu Wünschen, Hoffnungen und Bedürfnissen zu regeln hat, wie man diese in einer fiktiven Wirklichkeit am Leben erhält, ohne diese fiktive Wirklichkeit mit der diktierten gesellschaftlichen Wirklichkeit zu vermischen oder zu verwechseln. Im Spiel wird gelernt, wie man sich ein Selbstbewußtsein borgt, ohne sich damit zu identifizieren, es wird gelernt, wie man sich Hoffnungen macht, ohne sie für bare Münze zu nehmen, wie man sich Wünsche erfüllt, ohne sie zu erfüllen, und im Spiel wird gelernt, wie man die Prospekte, Kulissen, Verkleidungen und Requisiten, die der Kapitalismus als Spielzeug für die Großen und die Kleinen anbietet, als Werbung, als Katalog, als Western und als Krimi, als Comic-Heft und als Bastei-Roman, im Spiel wird gelernt, wie man dieses Material benutzt, wie man sich aus der Systemwerbung ein Wolkenkuckucksheim macht.

Kinder und auch Erwachsene aus der Arbeiterklasse, denen diese kapitalistische Gesellschaft keine konkrete gesellschaftliche Perspektive erlauben kann, sind darauf angewiesen, ihr Selbstbewußtsein als Fiktion zu borgen. Zumindest solange der Kapitalismus in das Selbstbewußtsein der Arbeiterklasse Keile treiben kann, hier in der Bundesrepublik durch den Faschismus und durch die Erfindung von der pluralistischen Gesellschaft, solange dieses Selbstbewußtsein als Klassenbewußtsein gespalten bleibt.

Spielen gegen die Wirklichkeit

Natürlich wird immer wieder der Versuch unternommen, den Weg zu einem Selbstbewußtsein in der Wirklichkeit aufzustöbern, zu probieren, wer man selbst ist, was man kann und was die anderen sind, was die anderen können. Und immer wieder wird ein Feld gesucht, auf dem man Abenteuer in der Wirklichkeit unternehmen kann. Deshalb gibt es auch Spiele, Spielbräuche und ein Freizeitverhalten der Kinder, die noch nicht von der Spielzeugindustrie entdeckt worden sind und somit noch nicht auf die herrschenden Vorstellungen von Glück, Selbstbewußtsein, Erfolg, von Liebe und Reichtum, von Recht und Unrecht dieser Gesellschaft geeicht sind. Aber diese Versuche werden immer schwieriger und lebensgefährlicher, die Zusammenstöße mit den Regeln der diktierten Wirklichkeit werden immer häufiger und schmerzhafter.

Finden die Kinder aus der Kulmerstraße noch Hinterhöfe, Kellergewölbe, Abrißhäuser und Löcher im Zaun des S-Bahngeländes, so wird es für die umquartierten Kinder im Märkischen Viertel schon um vieles komplizierter, solch ein Abenteuergelände noch ungestraft für sich entdecken zu können. Die Toleranz der Erwachsenen für solche Abenteuer, wenn das Gelände dafür der lebensnotwendige Fahrstuhl ist oder das akustisch höchst sensible Treppenhaus, ist im Märkischen Viertel auf der untersten Stufe angelangt.

Die Lust und die Hoffnung der Kinder, irgend etwas Neues und Aufregendes, etwas Veränderndes in der Wirklichkeit zu erleben, ist nicht totzukriegen. Zwar wird versucht, sie in dem Angebot fiktiver Abenteuer, die das Fernsehen ausspuckt, die als Comic-Heft auf den Markt geworfen werden, zu ertränken, aber die Lust auf Abenteuer in der Wirklichkeit kann der Kapitalismus damit nicht befriedigen.

Die immer größer werdende Diskrepanz zwischen einer auf Ausbeutung eingerichteten Wirklichkeit und dem Bedürfnis nach der Freiheit, aktiv und positiv in die Wirklichkeit eingreifen zu können; die Diskrepanz, die dabei entsteht, wenn einerseits die Wirklichkeit immer unverschämter und unmenschlicher zementiert wird und andererseits die Kauffreiheit immer idiotischer und sinnloser wird, diese Diskrepanzen führen auch im Freizeitbereich der Kinder zu immer schärfer, immer verzweifelter und aggressiver werdenden Attacken, mit denen die Wirklichkeit herausgefordert werden soll.

Feuerwerk

Ab und zu gelingt es einigen cleveren Geschäftemachern, für diesen Zustand, für diese Situation ein angemessenes Requisit auf den Markt zu werfen. Die Riesenumsätze der Feuerwerksindustrie, zwischen Weihnachten und Neujahr darf sie verkaufen (Kunden hätte sie zu allen Jahreszeiten), haben schon längst nicht mehr ihre Ursache in einem Silvesterbrauch, denn was den Omas, den Opas, den Onkels und den Tanten vom ersten Werktag nach Weihnachten bis drei oder vier Tage nach Silvester von morgens bis abends als Straßenkampfkulisse in den Ohren knallt und knattert, haben sie zum Teil selbst finanziert, denn die lieben Geldgeschenke, die Oma und Opa, Onkel und Tante ihren kleinen Verwandten zu Weihnachten gemacht haben, wandern nicht in die Sparkasse, sondern sie werden in ein Spielzeug investiert, das zwar teuer, aber den Kindern jedes Geld wert ist. In diesem Spielzeug kommen alle modernen Freizeitbedürfnisse einer kapitalistischen Gesellschaft zusammen. Typisch ist dieses Spielzeug auch deshalb, weil nun absolut keine Grenzen mehr zu finden sind zwischen den Bedürfnissen der Erwachsenen, der Jugendlichen und der Kinder.

Bei der Mehrzahl allen Spielzeugs, das für Kinder ab acht Jahren geeignet ist, wird die Tendenz, Spielzeug auf den Markt zu bringen, das auch den Freizeitbedürfnissen der Erwachsenen entspricht, nicht nur deshalb immer größer, weil die Erwachsenen die Käufer des Spielzeugs sind, sondern auch deshalb, weil die Erwachsenen immer stärker darauf angewiesen sind, aus der total reglementierten Ausbeuterwirklichkeit in die gleiche Scheinwelt zu entfliehen, die für Kinder als "Kinderparadies" aufgebaut wird.

Die Erwachsenen benutzen das Spielzeug Feuerwerk, um sich ihre eigenen Hoffnungssterne an den Himmel zu feuerwerken, und für eine Viertelstunde kosten sie die Illusion aus, daß einen der große feuerspuckende Knall in eine andere, auf jeden Fall bessere Zukunft sausen lasse. Mit Schweizerkrachern, Chinakrachern und Knallfröschen liegen die Kinder in einem Zehntage-Feuerwerkskrieg mit der diktierten Wirklichkeit. Aus diesen Krachern wird alles herausgeholt, was nur herauszuholen ist an Erlebnis. Hausflure werden in die Luft gesprengt, Autos werden bombardiert, Supermärkte werden durcheinandergebracht und ein Attentat nach dem anderen wird auf die Nerven der Erwachsenen unternommen. Jeder hat die Chance, jemand zu sein. Graumäuse, die sonst keiner beachtet, machen sich beliebt, wenn sie für diese Zeit gespart haben und nun großzügig Kracher abgeben an die, die zwar keine Kracher haben, aber dafür ihren Mut zu Markte tragen, um einen in die Hand zu kriegen. Wer wirft als letzter den angezündeten Kracher weg, wer behält ihn am längsten in der Hand. Wer schmeißt ihn in den Laden rein. Freiwillige gibt es genug. Mit Krachern kann man tauschen und handeln, mit Krachern kann man sich bemerkbar machen, so daß Erwachsene vor Schreck zusammenzucken, mit Krachern kann man zündeln, mit Krachern ist man Panzer, Pistole, Westernheld, Indianer, Räuber und Soldat in einem.

Kracherzeit ist die beliebteste Spielzeit, Kracherzeit macht die modernste Spielumwelt möglich. Alle Geschenke unterm Weihnachtsbaum stinken ab gegen dieses Feuerwerk. Ein Spielzeug mit der breitesten Streuung und dem schnellsten Umsatz. Ein Spielzeug, bei dem sich die psychische Situation der Menschen, die von dieser kapitalistischen Gesellschaft geprägt wurde, und die ökonomischen Interessen des Kapitalismus bereits völlig ergänzen.

Klickerkugeln und Heulrohre

Kracherersatz hat im vorigen Jahr die Erfindung der Klickerkugeln gebracht. Klickerkugeln schaffen zumindest eine neue Variante auf dem schmalen Feld der Möglichkeiten für den Beweis von Können oder Nichtkönnen. Hier haben auch die Schwächeren mal wieder eine Chance, zu beweisen, daß sie wer sind. Der Beweis wird angetreten, wenn man die Kugeln knattern lassen kann wie ein Maschinengewehr. Das Geschicklichkeitselement, der Provokationseffekt, der sich mit dem nervenzermürbenden Knattern erreichen läßt, und das schmerzhafte Risiko, das sich beim Üben ergibt, weil bei ungeschickter Handhabung die Kugeln auf die Fingerknöchel knallen, haben dieses Spielzeug zu einem Schlager gemacht. Wenn jeder das Klickern beherrscht und kein Erfolgsgefälle mehr da ist, erlischt der entscheidende Reiz dieses Spielzeugs.

Bekam man mit den Klickerkugeln die Abstraktion einer Waffe in die Hand, so machte den Reiz der Heulrohre aus leuchtrotem Plastik der gespenstische Sirenenton aus, den man bei einiger Geschicklichkeit mit diesem Rohr erzeugen konnte. Allerdings ist der Provokationseffekt dieses Spielzeugs relativ gering und der halb künstlerische Effekt, mit diesem Rohr sogar so etwas wie eine Tonfolge produzieren zu können, sowie das leichte Schaudern, das dieses an Feuerwehr, Katastrophe, Gespensterhaus und Lorelei erinnernde Geräusch hervorrufen kann, machten dieses Spielzeug für Mädchen attraktiver als für Jungens. Ein wütendes aus der Reserve Fahren der Erwachsenen konnte man damit jedenfalls erst erreichen, wenn einem dieses Geheule bereits selbst schon auf die Nerven gegangen war. Meistens erzielte es nicht mehr als ärgerliche, aber immer noch reservierte Hinweise der Eltern, jetzt mal endlich mit dem Quatsch aufzuhören, oder, was eigentlich diesem Spielzeug in seinem Waffenwert gegen Erwachsene noch abträglicher war, Vater und Mutter versuchten selbst einmal, diesen Heulton hervorzuzaubern.

Diese Spielzeuge zeichnen sich dadurch aus, daß sie gemessen am Taschengeld erschwinglich sind, daß man über ihre Anscha6ung keine allzulange Rechenschaft ablegen muß. Hat man sich Knallkörper gekauft, brauchen die Eltern davon überhaupt nichts zu erfahren, denn die bringt man ja nicht mit nach Hause (die Ausgabe wird im schlimmsten Fall als Ausgabe für Süßwaren gerechtfertigt). Und man kann mit diesem Spielzeug die Wirklichkeit herausfordern, ohne sofort befürchten zu müssen, dafür bestraft zu werden. Außerdem bieten Spiele, die durch ein Spielgerät wie Klickerkugeln, Feuerwerk, Heulrohr oder Ähnliches nützlich werden, die Identifizierung mit Figuren aus dem fiktiven Bereich an. Das heißt, die Spiele haben eine fiktive Perspektive, einen Hintergrund. Kurzfristig kann man mit der Einbildung spielen, man sei jemand aus der bunten, vor Angeboten an das Selbstbewußtsein strotzenden Abenteuerwelt des Mannix, des Supermanns. Für die Herausforderungen der Wirklichkeit kann man sich bei den Spielformen, die sich mit solchen Geräten wie Feuerwerk oder Klickerkugeln anbieten, auch die Aura des fiktiven Abenteuerbackgrounds ausleihen, der es einem leichter macht, über den Schatten seiner eigenen in der diktierten Wirklichkeit festgeschweißten Person zu springen. Vom Feuerwerkskörper läßt sich leicht eine Brücke zur Handgranate in der Hand des wehrhaften und rechtschaffenen Kobra-übernehmen-Sie-Manns schlagen.

Talismane

Es müssen gar nicht die Spielzeugpistolen sein, die Schwerter aus Plastik, die Degen und Gewehre, die natürlich ganz einfach, fast plump, eine Verbindung zur Scheinwelt herstellen, oder noch plumper gar die Cowboyhüte, Indianerhauben und für Fatzkes ganze Ausrüstungen: der kleine Sheriff, der kleine Winnetou, der kleine Ritter, solche anmaßenden 1dentifizierungen und Kostümierungen liegen weit über dem, was man als 8-12jähriger braucht.

Es ist nicht Sitte, ja es ist fast unfein, zumindest für proletarische Mentalität, allzu plump seinen Talisman, die Brücke zum Reservoir fiktiver Identifikationen, den anderen auf die Nase zu binden, außerdem sind solche kompletten Ausrüstungen hinderlich. Im Indianerkostüm ist man Indianer und nichts anderes mehr. Als Cowboy kostümiert, kann man, was im Spielalltag ja jederzeit nötig werden kann, nicht mehr auf Tarzan, auf Fußballstar und Agent überspringen. Solche offene Ausstaffierung nach den Mustern der Scheinwelt kann man sich allenfalls mal im Fasching erlauben, und auch dann wirkt die Diskrepanz zwischen einem selber und dem kostümierten Typ, den man da im Spiegel als Mann von der Ponderosa und der Shiloh Ranch erkennt, eher aufdringlich und hinderlich, denn festgelegt auf etwas ist man auch in der Wirklichkeit. Der Mummenschanz macht den Unterschied zwischen dem in der Kostümierung nachempfundenen Identifikationsbild und dem, was man selbst ist, auf eine aufdringliche Art deutlich. Man will Mannix, Supermann usw. sein, aber man will nicht für jedermann sichtbar mit ihnen in Konkurrenz treten.

Es ist nicht der Sinn einer Kultivierung der fiktiven Welt, sich ihr auszuliefern. Die ganze Technik im Umgang mit Fiktionen soll gerade das Gegenteil ermöglichen und regeln, nämlich ihre totale Flexibilität. Die Spielmittel mit Talismancharakter sollen nicht für sich wirken, sollen nicht an die alten zugänglichen Klischees aus dem fiktiven Fundus erinnern. Sondern mit ihrer Hilfe will man es sich leichter machen, an die Stelle, an die ein eigenes Selbstbewußtsein gehören würde, ein geborgtes zu setzen, solange bis man mit diesem geborgten zu einem eigenen gekommen ist.

Die Spielzeugpistole kann solch ein Talisman für ein geborgtes Selbstbewußtsein sein. Die Zündplättchenpistole muß nicht knallen. Es braucht mit ihr auch nicht gespielt zu werden. Man hat sie wegen ihres Talismaneffekts dabei, wenn man auf der Straße herumsteht, mit anderen zusammen ist.

Deshalb können diese Relais zum fiktiven Reservoir auch kleiner sein, sie erfüllen auch ihren Zweck, wenn man sie für andere unsichtbar in der Tasche hat. Bei einer Pistole ist es wichtig, daß sie einen möglichst originalen Eindruck macht, realistisch aussieht. Identifikationsrelais für die Hosentasche müssen das nicht sein, im Gegenteil, je breiter der Bereich ist, den sie symbolisieren, desto besser.

Dieses Talisman- und Identifikationsbedürfnis ist vor allem im Spielzeugbereich von der Branche entdeckt worden, die von den Taschengeldgroschen, die die Kinder ausgeben, ihren Profit macht. Längst sind es nicht mehr die Süßigkeiten, mit denen man die Kinder vor den Ladentisch locken kann, sondern das, was sonst noch in den Packungen drin oder auf ihnen drauf ist. Typischstes Verkaufsinstrument dafür ist der Kaugummiautomat mit Wundertütenreiz. Denn der Groschen, der in diesen Automaten gesteckt wird, soll nur in zweiter Linie einen Kaugummi herausholen. Herausholen will man einen dieser Talismane, der - wenn man Glück hat - zusammen mit der gerade noch mit dem Nahrungsmittelgesetz zu vereinbarenden kugelförmigen, giftfarbigen Kaumasse herausfällt. Totenköpfe, Minipistolen, Glücksringe...

Auch Zigaretten spielen keine andere Rolle, ab acht Jahren wird nach Möglichkeit geraucht, ab und zu, wenn man eine Zigarette bekommt, wenn man eine Mark erwischt, um sich welche zu ziehen. Es gibt aber auch Läden, die die Zigaretten einzeln verkaufen an ihre kindlichen Kunden.

Sehr groß ist der Provokationseffekt für die Erwachsenenwelt nicht mehr, den das Rauchen von Zigaretten durch Kinder haben könnte, aber er spielt mit eine Rolle für den Reiz, Zigaretten zu besitzen und zu rauchen. Wichtiger ist wieder der Bezug, der durch die Zigarette zur Scheinwelt des Selbstbewußtseinsreservoirs hergestellt wird, und die Zigarettenwerbung 1äßt ja keinen Zweifel darüber, welche spezifische Wunderkraft in ihren Stäbchen steckt: nämlich Freiheit und Abenteuer.

Amerikanos - Image - Handel

1928 konnte Walter Benjamin über das Briefmarkensammeln in seinen Bemerkungen über die Briefmarkenhandlung noch folgendes schreiben:

"Das Kind sieht nach dem fernen Liberia durch ein verkehrt gehaltenes Opernglas: da liegt es hinter seinem Streifchen Meer mit seinen Palmen genau wie es Briefmarken zeigen. Mit Vasco da Gama segelt es um ein Dreieck, das gleichschenklig ist wie die Hoffnung und dessen Farben mit dem Wetter sich ändern. Reiseprospekte vom Kap der guten Hoffnung. Wenn es den Schwan auf australischen Marken sieht, dann ist das, auch auf den blauen, grünen und braunen Werten, der schwarz Schwan, der nur in Australien vorkommt und hier auf den Gewässern eines Teiches als auf dem Stillen Ozean dahinzieht. Marken sind Visitenkarten, die die großen Staaten in der Kinderstube abgeben. Als Gulliver bereist das Kind Land und Volk seiner Briefmarken." (Einbahnstraße)

Das Sammeln von Briefmarken ist auch heute noch ein Hobby, das auch von Kindern betrieben wird. Allerdings sind die Realwerte der gesammelten Marken um vieles wichtiger und interessanter für dieses Hobby geworden als die auf den Marken abgebildeten Motive.

Was man früher vielleicht nur auf den Briefmarken finden konnte, leuchtet einem heute als Visitenkarte großer Firmen in prächtigsten Farbdrucken von jeder Plakatsäule entgegen. Als Sammelobjekt und als Visitenkarte großer Firmen gab und gibt es die bunte Welt historischer, utopischer und kapitalistisch spekulativer Bilderwelten auch als Beigabe zu Waren, und es gibt sie als Ware selbst.

Die Firma Amerikano München macht das so: Für den gleichen Preis, für den sie früher an die Kinder Kaugummi und Kaugummibilder verhökerte, bietet sie nun nur noch die Bilder an. Daß dies das Geschäft erst so richtig ins Rollen gebracht hat, beweist die Straße vor fast jedem Bäcker-, Süßwaren- oder Zeitschriftenhändler. Denn die Straße ist dort wie mit Herbstblättern bedeckt von kleinen, rechteckigen, gelbroten, dunkelblauen oder hellblauen Tüten. Es sieht aus wie vor einer Losbude. Und der Loscharakter, den diese Bildertüten haben, macht mit den Reiz aus, den der Kauf von Amerikano-Bildern für die Kinder hat. Im Laden stehen verschiedene Verkaufskisten wie Loseimer, auf jeder von ihnen ist vermerkt, welche Sparte von Image gezogen werden kann. Für zwanzig Pfennig erhält man die Erlaubnis sich eine der perforierten Tüten zu ziehen. Die Tüte ist zweifarbig bedruckt und sieht nach gar nichts aus. Verschwenderische Kapitalisten 1eisten sich immer noch diesen völlig überflüssigen Luxus, eine Ware mit buntem Hochglanzdruck auf der Verpackung zu verkaufen. Amerikano verkauft nur noch das, was andere auf die Verpackung drucken. Für die Verpackung ist nur wichtig, daß der Käufer nicht wissen darf, was er kauft. Man zieht aus der Sparte buntes Allerlei, aus der Sparte Vogel und Tierwelt, aus der Sparte Fußballstars usw. Hat man nun gewählt, darf man die Tüte, die man sich gezogen hat, aufreißen. Stellt man nun fest, daß man die Bilder bereits hat, wird man, wenn man unbedingt neue haben will, noch einmal bezahlen müssen und noch einmal ziehen müssen. Auch Amerikano bietet, wie die Feuerwerksindustrie, ein fortschrittliches

Spielzeug, eine moderne Spielumwelt den Kindern an. Das Bedürfnis nach Relais zu Fiktionen, nach Identifikationstalismanen, das Bedürfnis, sich aus vielen Puzzles eine schöne Scheinwelt zusammenzusammeln, aber auch das Bedürfnis nach Kommunikation, in der kapitalistischen Form des Handelns, Tauschens, Kaufens, Verkaufens, wird bei diesem Verkaufspiel erfüllt. Selbst die Neugier ist auf eine für den Kapitalismus ideale Art integriert. Die Kinder werden geschult für ihr künftiges Leben, ihr kindliches Amerikano-Kauferlebnis zum Maßstab des Konsumierens zu machen. Qualität ist keine Verpflichtung für den Verkaufenden, Qualität ist ein Glücksfall, über den man sich zusätzlich freuen kann, die Nieten zwischen dem Angebot machen das Kaufen zu einem kleinen Abenteuer. Amerikano baut vor. Vielleicht kann man später einmal dieser Kundengeneration auch den Ausschuß andrehen, wenn man den Einkauf zu einer Glückssache macht, bei der man auch Pech haben kann.

III. FIKTION-KONSUM

Für die Träume, Wünsche und Hoffnungen, für das Reservat der Fiktionen braucht man nicht nur Requisiten und Talismane, man braucht vor allem auch eine dramatische Bebilderung dieses Reservats, man braucht Botschaften, Bestätigungen, daß es diese fiktive Welt gibt, daß wenigstens in ihr all das möglich ist, was die diktierte Wirklichkeit nicht hergibt. Man braucht Märchen, Fabeln, Parabeln, Legenden und Sagen. Man braucht als Kind und auch als proletarischer Erwachsener eine Kultur.

Nicht die Kultur, die vom Bürgertum für das Bürgertum gemacht wird, sondern eine Kultur, die auf proletarische Bedürfnisse zugeschnitten ist. Die die Erfahrungen berücksichtigt, die proletarische Kinder und Erwachsene mit der Wirklichkeit machen, die die Ansprüche, die man an die Beschaffenheit proletarischer Träume stellt, berücksichtigt.

Diese Kultur steht unter dem Vorzeichen politischer Machtlosigkeit. Was in ihr geträumt und gewünscht wird, hat nur eine geringe Chance, Wirklichkeit zu werden (so meinen die Träumenden), soll niemals eine Chance bekommen, Wirklichkeit zu werden, so meinen die Fabrikanten dieser für Proleten gemachten Kultur.

Fiktionshandel

Je mehr dieses System die Meinung zur Vorherrschaft bringen kann, daß an der bestehenden Wirklichkeit nichts zu ändern ist, desto mehr kann dieses System an der Sucht nach einem funktionierenden proletarischen und mittelständischen Wolkenkuckucksheim verdienen.

Von Micky-Maus-Comic-Heften werden pro verkaufter Auflage ca. 430.000 an das Kind gebracht. Von Fix und Foxi 300.000. Auch die amerikanischen Schutzheiligen Superman und Batman haben sich nach längerem Kampf beim deutschen Kind eine konstante Marktchance erobern können, und Springers Zack, noch nicht einmal ein Jahr auf dem Markt, sitzt fest im Sattel. 12 Millionen Comic-Bücher und -Hefte werden im Monat in der BRD und in Westberlin verkauft. Sie werden an ein sehr launisches Publikum verkauft, denn die große Masse der in der Hauptsache kindlichen und jugendlichen Käufer kann sich in der Woche nicht mehr als zwei Comic-Hefte kaufen, ab und zu kann auch mal ein drittes dazukommen, aber dann ist die Finanzkraft bei der großen Masse der kindlichen Käufer erschöpft. Also geht es auf dem Markt darum, wer zu den drei Auserwählten gehört.

Für Donald und seine drei Neffen wird am schnellsten die 1,20 DM auf den Ladentisch gelegt, die ein Micky-Maus-Heft kostet. Aber beim zweiten Heft wird der Käufer schon wählerisch: soll er sich für Porky und Cicero entscheiden, die Schweine aus der Schweinchen-Dick-Schau, oder soll er 1,50 DM locker machen und sich das neue Zack zulegen? Der Kauf fällt schwer, denn mit Schweinchen Dick hat man die Fernsehsendung zur eigenen Verfügung und braucht nicht auf Montag zu warten, bei Zack hat man realistische Abenteuer, und davon gleich sieben verschiedene, allerdings nur Fortsetzungen, die immer an der spannendsten Stelle aufhören.

Von Schweinchen Dick werden mehr Hefte verkauft als von Zack, bisher noch..., denn Schweinchen-Dick-Hefte sind aufs Fernsehen angewiesen. Und darum findet der kleine Leser auch in seinem Schweinchen-Dick-Heft einen vorformulierten Protestbrief an Proffesor Holzamer: "Schweinchen Dick darf nicht sterben, ich will nicht, daß die lustigen Fernsehspäße von Schweinchen Dick und seinen Freunden verschwinden. Die Schweinchen-Dick-Schau ist eine echte Sendung für uns junge Fernsehzuschauer und einfach Klasse..."

Wem Micky Maus und Donald Duck, Schweinchen Dick und Duffy zu amerikanisch, nicht deutsch genug, oder wem diese Hefte noch zu anspruchsvoll sind, der kauft Fix und Foxi von dem Mann, der von sich meint, ein deutscher Walt Disney zu sein, von Rolf Kauka.

Schon diese vier müssen auf der Hut sein vor den Launen ihrer Leser. Bieten sie Qualität (wie sie der Comic-Leser versteht), immer nach dem gleichen Muster gestrickt, kann die Gefahr aufkommen, daß der Leser dem Heft untreu wird, weil er Appetit auf neue Serien bekommt. Gibt man den Serien einen neuen Trend, verändert man das Strickmuster zur falschen Zeit oder in der falschen Art, ist es ebenfalls möglich, daß die Kunden das Heft nicht mehr kaufen.

Außerdem wandelt sich die Struktur der Leser, denn die Kinder werden älter und nicht immer ist es sicher, daß die neue Lesergeneration auf die gleichen Fiktionslutscher Appetit hat wie der alte Stamm, auf den man sich gerade eingestellt hat. Von diesem Springen und Fluktieren der Leserschichtenn profitieren die vielen anderen Comic-Pferdchen, die außer Micky Maus, Fix und Foxi, Schweinchen Dick und Zack noch ins Rennen geworfen werden. Superman und Batman liegen im Kampf um den Markt mit Falk und Silberpfeil, Rex Danny, der amerikanische Bomberpilot von Bastei, kämpft gegen die Sonderhefte von Springers Koralle, Kaukas Primo gegen Disneyland, die Phantastischen Vier gegen den Roten Korsaren usw. Der Markt der Comic-Hefte ist ständig im Umbruch, die Verkaufschancen wechseln, sie sind nicht nur abhängig vom Alter und vom Bildungsgrad der Leser, sie sind auch regional verschieden. Amerikanische Serien versuchen, Fuß zu fassen, werden wieder zurückgedrängt von Serien aus belgischer oder französischer Produktion, italienische Micky-Maus-Bücher drängeln sich auf den Markt und werden in der einen Gegend von Zack-Comic-Büchern wieder verdrängt - setzen sich in einer anderen Gegend durch.

In Süddeutschland sehen die Chancen anders aus als in Norddeutschland. In den Zeitungsläden der Vororte mit mittelständischer Bevölkerung findet man ein anderes Angebot als in Bezirken, die überwiegend von Arbeiterfamilien bewohnt werden.

Der launische Käufer

Die Leser sind launisch und kritisch, wenn sie neben ihrem Stammheft noch ein zweites oder drittes Comic Book kaufen.

Wenn Comic-Hefte gekauft werden, dann werden Vorspiegelungen einer gewünschten Wirklichkeit, einer gewünschten Existenz gekauft, man will dramatische, bewegte Träume vor die Augen bekommen, von denen man zwar weiß, daß sie nur Schein sind, aber von denen man sich trotzdem eine gewisse Entspannung von der Wirklichkeit erhofft, zumindest aber eine Versöhnung mit dieser Wirklichkeit. Die gekaufte Story oder auch die Fernsehserie, in die man sich einschaltet, sollen zu der Stimmung passen, in der man sich gerade befindet.

Von Fernsehserien und Comic-Heften erwartet man, daß in ihnen das Sperrfeuer der diktierten Wirklichkeit massiv erwidert wird. Wenigstens in den Traumbüchern und Flimmermärchen will man die zubetonierte Wirklichkeit in den Griff bekommen.

Darum muß sie griffig gemacht werden, diese fiktive Welt. Sie soll Ähnlichkeiten haben mit der tatsächlichen Realität, aber sie soll einem einfache Möglichkeiten und Wege eröffnen, auf denen man schnell dieser Wirklichkeit kontra geben kann, auf denen man schnell Oberwasser bekommen kann.

Damit dies möglich wird, sind den Herstellern von Fiktion alle Zaubertricks und Schwindeleien, alle Unwahrscheinlichkeiten und faustdicken Lügen erlaubt, vorausgesetzt es wird gut gelogen, gut gezaubert, gut geschwindelt. Es ist den Zeichnern und Filmemachern erlaubt, aus sämtlichen Märchen und Sagen der Weltgeschichte zu plündern was ihnen gerade passend erscheint, alle einschlägigen Zauberkunststücke, Beschwörungen, Wunder und Mirakel sind vom Konsumenten zugelassen wenn sie ihm beim Lesen und Zuschauen zu Gebote stehen um diesen verdammten Dschungel der diktierten Wirklichkeit wenigstens im Traum überschaubar und beherrschbar zu machen, oder wenn sie dazu taugen (auch das wird gern geschluckt), einen mit der Realität, so wie sie nun mal ist, zu versöhnen. Darum gehört in das Arsenal der Hilfsmittel, mit denen die Fiktion-Künstler die Ansprüche ihrer Kunden zu befriedigen suchen, auch die "Häme", der Witz, die Verballhornung, Verspottung und Lächerlichmachung der Wirklichkeit. Mit Witz ist die Wirklichkeit halb so schlimm, und sie begreifbar zu machen, ist ein beliebtes Spiel, in dem man das Diktat der Wirklichkeit durchlöchern und die Diktatoren lächerlich machen kann.

Der Verstand

Im Straßenkampf und Existenzkampf mit der diktierten Wirklichkeit braucht man als Prolet einen hellen Kopf, braucht man Geistesgegenwart und ein sicheres Urteil, eine trockene und konkrete Einschätzung der Wirklichkeit, die einen umgibt, in der man existieren muß. Mittelständler, Kleinbürger können es sich vielleicht leisten, Hirngespinste und Spekulationen mit der Wirklichkeit zu vermengen. Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus der "Unterschicht" müssen da vorsichtig sein. Der Verstand wird täglich verbraucht, täglich werden neue Tarnungen und Kriegslisten benötigt, man muß bei Bewußtsein sein in diesem Kampf. Ohne Bewußtsein oder in Trance fliegt man auf die Fresse. Es gibt keinen Pappi, der's schon richten wird, wenn man mal ausrutscht, kein Netz, in das man purzelt, wenn man sich verspekuliert hat. Das Klassennetz, das sich die Bourgeoisie aufgespannt hat, um sich bei ihrer waghalsigen Artistik nicht das Genick zu brechen, das fehlt im Zirkus der Proleten, zumindest, soweit es die materielle Existenz betrifft (für die psychische Existenz gibt es dieses Netz schon, als Solidarität und Zusammenhalt).

Bewußtsein ist etwas, das man alltäglich braucht, und Scharfsinn beim Durchschauen der Wirklichkeit gehört zu dem Besteck, ohne das man im Alltagskampf nicht durchkommt. Zum Träumen im Wolkenkuckucksheim oder in Entenhausen, Metropolis, Gotham City, wie diese Orte in den Comics heißen, zum Träumen, zum Entspannen, zum Lutschen von Fiktionen braucht man kein Bewußtsein, keine Alltagswaffen wie Verstand. Und man will sie auch gar nicht gebrauchen.

In Fernseh- und Comic-Serien will man nicht die wirkliche Welt wiederfinden, sondern nur eine Montage aus den Vorgängen, Szenen, Dingen und Personen, mit denen man in der Wirklichkeit nicht fertig wird, die einem in er Wirklichkeit nicht zugänglich oder verboten sind. Und man woll diese Stücke der Realität so montiert sehen, daß die Helden, mit denen man in die Scheinwelt reist, mit dieser simulierten Wirklichkeit fertig werden.

Die Geschichten brauchen sich nicht logisch auf die Wirklichkeit zu beziehen, sie müssen nur insoweit plausibel sein, daß sie in den jeweils gesetzten fiktiven Rahmen passen. In einer Donald-Duck-Geschichte stören nicht die unwahrscheinlichen Glückszufälle des Gustav Gans oder die über alle Maßen genialen Einfälle des Daniel Düsentrieb, sondern es würde unwahrscheinlich, unlogisch wirken, wenn Gustav Gans kein Glück hätte und Daniel Düsentrieb nicht prompt mit der jeweils gewünschten Erfindung zur Stelle wäre.

In einer Kampfpause will man nicht belehrt werden. Belehrungen, Wissen, Lernen (hat man sie als nötig und nützlich akzeptiert) holt man sich nicht aus Comic-Heften. Eine Vermischung von Fiktion und Wissen ist gar nicht so beliebt. Die Erläuterung von physikalischen oder chemischen Vorgängen in Science Fiction Stories, bei Superman oder manchmal auch in den Micky-Maus-Heften, die ja meistens sogar einen wissenschaftlich stichhaltigen Kern enthalten, interessieren nicht als Wissensvermittlung, eher als gelungene Ausredekunststücke. Schein und Wirklichkeit sollen sich so zueinander verhalten, daß man sich beim Konsumieren der Fiktionsmixturen immer noch sagen kann, möglich wär's. So möglich wie ein Lottogewinn oder ein reicher Onkel in Amerika.

Die richtige Mischung

Um dieses "möglich wär's, möglich daß es so gewesen ist", in der gerade eben charakterisierten Relation, dreht sich eigentlich die ganze Kunst der Fiktion-Kultur, wie sie von den Machern und den Abnehmern dieser Kultur gehandhabt wird. Der Grad der Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit der Stories, Krimis, Western, der ganzen modernen Märchen und Legenden im Film, im Fernsehen, in Comic-Heftchen und Romanen ist die Klippe für die Macher, an der sie am häufigsten scheitern. Denn die Launen der Leser und Zuschauer beziehen sich, abgesehen von den Schwankungen im Alter der jeweiligen Konsumenten, vor allem immer wieder auf das Verhältnis der Mischung von Wirklichkeit und Fiktion. Donald und die ganze Enten-, Mäuse- und Hundesippschaft begeben sich auf ein gefährliches Glatteis, wenn sie als fiktive Figuren in einer klar als Märchenwelt gekennzeichneten Umgebung agieren. Sie sind auf einem relativ sicheren Terrain der Lesergunst, wenn sie einfache Alltagssituationen zum Ausgang ihrer Aktionen und Abenteuer nehmen, etwa wenn Donald seinen Neffen verbietet, Schundliteratur zu lesen. Oder wenn Tick, Trick und Track ihr Sparschwein für einen "guten" Zweck opfern sollen. Leutnant Blueberry (eine Western-Serie aus Zack) gerät in Gefahr, für den Leser langweilig zu werden, wenn der Lauf der Handlung durch die Berücksichtigung historischer Wahrheiten beeinträchtigt wird.

Etwa bei dem Verhältnis der US-Armee zu den Indianern in den Reservaten. Bezug zur Realität des Lesers in dieser Geschichte entsteht nur über ein Charakteristikum des Haupthelden Leutnant Blueberry: er wird ständig zu Unrecht irgendwelcher Vergehen beschuldigt. Der Lesereiz dieses Strips entsteht einzig und allein aus dem Abenteuer, von aller Welt für schuldig gehalten zu werden, und immer wieder mit Pauken und Trompeten seine Unschuld beweisen zu können (um dann gleich wieder einer neuen Beschuldigung zum Opfer zu fallen). Der Ehrgeiz der Zeichner und Texter, manchmal so etwas wie historische Fakten vermitteln zu wollen, ist für die Katz; da die Geschichte nicht heutzutage spielt, ist es wurscht, welchen historischen Hintergrund dieser Western hat. Das Genre Western ist wichtig, weil es der Geschichte, die erzählt werden soll, einen fiktiven Background gibt, in dem der Leser sich über die dort herrschenden Riten und Gebräuche auskennt.

Am deutlichsten ist der Kampf um die richtige Mischung von Fiktion und Realität - und damit der Kampf um den Markt - an den Superman-, Batman-Heften abzulesen. Die alte Konzeption dieser Superhelden kommt heute nicht mehr an, sie ist an den Klippen der Lesergunst gescheitert. So müssen sich die Firma National Periodical Publication und ihre Zeichner und Texter um eine neue, um eine aktuelle Mischung von Wirklichkeit und Schein bemühen. Und daß ihnen das nicht leicht fällt, ist bei jedem neuen Heft zu sehen.

Superman entstand als der erste einer Reihe amerikanischer Weltenretter, die gegen das Böse, insbesondere aber gegen den deutschen Faschismus ins Feld geschickt wurden. So hatten also alle Geschichten und auch der Rahmen, das Grundmotiv der Serie einen Bezug zur Wirklichkeit. Und als Hitler kaputt war, konnte Superman in den fünfziger Jahren zusammen mit seinen Kollegen Batman und Mister Amerika reaktiviert werden, um während der McCarthy-Ära und des Korea-Kriegs gegen den "Weltfeind Kommunismus" zu ziehen.

Aber diese Zeiten sind vorbei. Endgültig sind sie seit dem Vietnam-Krieg vorbei, denn in diesem Krieg wurde offenbar, daß die Supermänner wie Mister Amerika brutale, gemeine Kriegsverbrecher waren. Und vor aller Welt zeigte es sich, daß hinter dem kommunistischen schlitzäugigen Bösewicht ein heldenhaftes Volk stand, das sich von Superman, soviel der auch "zaubern" mochte, nicht niedermachen ließ. Das brach den Supermännern das Genick.

Die Wirklichkeit hatte unübersehbar den Fiktionstraum Lügen gestraft. Heute werden Superman und Batman unter sparsamster Verwendung ihrer Zauberkräfte in die Slums geschickt. Dort mischen sie sich bei Hausbesetzungen ein (anfangs auf der Seite der Besetzer). Oder sie ergreifen Partei für die Indianer, die ihr Land gegen die Errichtung einer Raketenbasis verteidigen wollen (das "Schicksal" will es, daß der Chef der Baufirma ein Schwindler ist). Einen Warentester nehmen sie vor einem Konzernboß in Schutz, der den Tester abmurksen will, weil dieser dem Erzeugnis seiner Firma ein schlechtes Testergebnis ausgestellt hat. (Der Tester ist das Opfer eines Gangsterschwindels, der Konzernboß unschuldig.) Und sie setzen sich für einen Menschen ein, der eine Wundernahrung gefunden hat, die billig und nahrhaft ist und so die Menschheit vor dem Hunger bewahren könnte. Ein Nahrungsmittelkonzern will diese Erfindung in den Griff bekommen und bedroht deshalb diesen Menschen. Superman nimmt ihn so lange in Schutz, bis sich herausstellt, daß diese Nahrung eine süchtigmachende Droge ist.

Verzweifelt suchen hier Fiktionproduzenten nach der richtigen Mischung, aber mal erwischen sie zuviel Unmögliches, mal zuviel Wirkliches, mal verstoßen sie gegen das Identifikationsbedürfnis ihrer proletarischen Kunden, weil sich Superman allzudeutlich als Handlanger der Herrschenden entpuppt, mal wagen sie sich allzusehr auf ein Terrain, wo die in Gang gesetzte Story ein Happy End fordert, das den Herrschenden nicht in den Kram paßt. Wenn Zufälle nicht ein legitimes Kunstmittel bei der Produktion von Fiktion wären, so manche Story wäre offensichtlich am totalen Krampf zugrunde gegangen.

Der Verzehr

Aber nicht nur die richtige Mischung will der kritische Leser haben (und pingelig sind sie alle, wenn es um's Fiktion-Konsumieren geht), auch die Situation, in der er liest, in der er überhaupt zum Lesen kommt, soll bei der Herstellung berücksichtigt werden.

Fiktion wird in den Kampfpausen konsumiert. Fiktion tankt man, um wieder einigermaßen fit gegenüber diesem Wirklichkeitsdschungel zu sein. Ehe man wieder zum Objekt gemacht wird, tankt man sich schnell mit dem Gefühl auf, handelndes Subjekt zu sein. Die Pausen sind kurz, jeden Augenblick kann man von Lehrern, Eltern oder anderen Autoritäten wieder in die Wirklichkeit zurückkommandiert werden. Drum will man in dieser kurzen Zeit eine möglichst harte Dosis erwischen. Comics müssen kurz sein, nach spätestens 12 Seiten muß eine Geschichte ihr Ende gefunden haben.

Trotzdem sollen noch einige Geschichten übrigbleiben in dem Heft, das man sich gerade zugelegt hat, damit man auch bei der nächsten Rast noch etwas zu lesen hat. Darum werden in einem Heft immer gleich mehrere Comic Strips angeboten. Hefte mit einer einzigen durchgehenden Geschichte werden schlechter verkauft. Aber Käufer finden auch solche Hefte, denn der Bedarf nach Comic-Heftchen ist groß.

Er ist groß, weil keines der Hefte endgültig befriedigen kann. In jedem neuen Heft, in jeder neuen Serie sucht man diese Befriedigung, sucht Lösungen und Antworten, sucht die goldene Verbindung zwischen der Wirklichkeit und dem Schein, sucht einen reibungslosen und akzeptablen Weg, der von der Wirklichkeit in das Reservat der Hoffnungen und Wünsche führt.

Ein neues Heft wird nicht gleich von Anfang bis zu Ende durchgelesen. Eine neues Heft wird von dem kritischen Käufer erst einmal mit Kennerblick schnell durchgeblättert und nach einem passablen Einstieg abgesucht, nach einer Stelle in den abgebildeten Geschichten, die zu der Stimmung, in der man sich gerade befindet, am besten passen könnte. Erst wenn man so einen Einstieg gefunden hat, läßt man sich auf das Lesen der jeweiligen Geschichte ein. Die Comic-Macher wissen das und legen deshalb größten Wert drauf, für ihre Geschichten einen geschickten Anfang zu finden. Oft wird der Höhepunkt der Handlung sogar an den Anfang gesetzt. In einer Art Rückblende wird dann erzählt, wie es zu der anfangs vorgefundenen, sensationellen Situation gekommen ist. Der Leser hat seinen Einstieg und braucht nicht lange herumzusuchen.

Es wird immer einen kurzen Augenblick gezögert, ehe man eintaucht in die fiktive Welt, ehe man sich bei Donald auf das Kanapee setzt, um mit ihm auf Abenteuer und Sensationen lustiger Art zu warten, oder ehe man sich bei Superman, Batman, Spinman oder den Fantastic Fours einhängt, um mit ihnen in irgendwelche Schlachten um das Gute gegen das Böse zu ziehen.

Die Identifikationsvehikel

Wichtig für so eine Reise in die fiktiven Wunsch- und Traumlandschaften ist auch das Fahrzeug, das Vehikel, mit dem man sich auf die Reise begibt. Es hängt stark von der Konstruktion der Identifikationsfiguren ab, ob die Reise genußvoll ist oder nicht. Eine Reise mit Falk und Silberpfeil verläuft anders, als wenn man sich mit Leutnant Blueberry in den Wilden Westen begibt. Und eine Verbrecherjagd mit Batman hinterläßt eine andere Stimmung, als wenn man sie mit Rick Masters unternimmt. Von Falk und Silberpfeil wird man in einen idyllischen Wilden Westen entführt, in dem die Natur, in dem Tiere eine große Rolle spielen. Mit den beiden durchreist man einen Märchenwald. Bei Blueberry hetzt man durch ein gefährliches Terrain, auf dem hinter jedem Felsen, hinter jedem Berg Gefahren lauern. Batman ist fast immer im unheimlichen nächtlichen Gotham City unterwegs, Rick Masters nimmt einen per Auto oder Eisenbahn durch europäische Landschaften und Städte mit. Jede Comic-, aber auch jede Fernsehserie versucht, ihrem Kunden eine eigene gelungene Mischung von Wirklichkeit und Fiktion zu bieten; eine eigene unverwechselbare Stimmung, eine eigene psychologische Ausgangsposition, eine spezielle Konstruktion des Vehikels, mit dem man in die Wunschwelt gekarrt, kutschiert oder gejagt wird. Fast alle diese Fahrzeuge unterscheiden sich zwar im Aussehen, auch in ihrer Geschwindigkeit und Geländegängigkeit, aber das Funktionsprinzip ist bei allen dasselbe und neu ist es auch nicht.

Die Vorfahren

Nicht nur die Karosserie dieser Vehikel hat eine lange Tradition, auch die Art und Weise, in der die Identifikationsfiguren der Comics und Fernsehserien durch die fiktiven Landschaften führen, ist schon uralt. So alt wie die Ausbeutung, die Unterdrückung und die Religion. Man kennt sie alle, die Vorfahren der Bonanza-Söhne, der Mannix, Superman, Batman, Donald Ducks. Man kennt sie aus griechischen und germanischen Götter- und Heldensagen, aus Fabeln, Legenden und aus den Grimmschen Märchen.

Siegfried arbeitet heute als mächtiger Hilfspolizist in Amerika. Nicht mehr zwischen den Schultern liegt seine verwundbare Stelle, sondern schwach wird dieser amerikanische Siegfried bei Krypton, einem grünen Metall. Der Wolf, der Rotkäppchen und viele andere in den Märchen bedrohte, ist weiter Wolf geblieben, Ede heißt er, und hat einen Sohn. Die sieben Geißlein haben sich in Enten verwandelt, und statt von der Geißenmutter werden sie nun von einem Onkel Donald behütet. Statt auf Geißlein macht der Wolf auf Schweinchen Jagd, auf die drei kleinen Schweinchen, früher einmal ordentliche Handwerker, heute als verängstigte Kleinbürger in irgendeiner amerikanischen Stadt wohnhaft und dort von sehr viel mehr bedroht als nur vom Wolf. Die Vormänner und Gutsbesitzersöhne auf Shilo Ranch und auf der Ponderosa erinnern an die Müllersöhne aus Tischlein-Deck-Dich oder an die vielen Prinzensöhne in den Märchen (immer sind es drei), die in die Welt ziehen, um Abenteuer zu bestehen. Auch die Einzelgänger sind heute noch in Aktion, wie das tapfere Schneider oder der, der auszog, das Fürchten zu lernen, und mit Gespensterköpfen Kegel spielte. In den Comic- und Fernsehserien sind sie als Detektive in Aktion oder sie müssen als Verbrecher herhalten, als Punchingbälle für die Helden.

Zwar findet man sie alle wieder, die Stiefkinder und Dummerlinge, die Froschkönige und gestiefelten Kater, die Hexenmeister und Stiefmütter die entlassenen Soldaten und furchtlosen Handwerksburschen, aber sie sind nicht mehr Eigentum des Volkes, sie sind nicht mehr frei. Sie sind Mietlinge amerikanischer, deutscher oder französischer Comic-Book- oder Fernsehfilmproduzenten geworden. Die rache- und blutdurstige Phantasie, die umstürzlerischen Träumereien sind von den Herrschenden in die Zügel genommen worden. Aus wilden Märchenphantasien der Unterdrückten sind taube Erbauungslektüren geworden, imperialistische Mysterienspiele und Polizeilegenden.

In den echten Märchenträumen kriegt der Dummerling oder Müllersohn am Ende immer die Macht im Staat. Die Prinzessin wird geheiratet, auch wenn der König noch so unmögliche Aufgaben und Fragen stellt, um dies zu verhindern: "... da mußten sie endlich zugeben, daß Dummerling nach ihres (der Prinzessin) Vaters Tod das Reich erben solle und als er starb, ward er König und hat lange in Weisheit regiert..." Fast immer wollen und bekommen sie am Ende Alles in den Schoß gelegt, die Ausgesetzten, Ausgestoßenen, die Stiefkinder und dritten Söhne. In den Comics sind es oft noch die gleichen Märchencharaktere, auch Superman ist ein unscheinbarer schüchterner Journalist, auch Batman wird in seiner Scheinexistenz von den Menschen verkannt und nur als Batman bejubelt, Donald ist ein armer Schlucker, der ständig das Sparschwein seiner Neffen plündern muß. Die "Spinne" hat Schulden und kommt mit ihrem Studium nicht zurecht, Goofy ist ein Penner, und Rose die Rächerin ist eine Waise, die als Sekretärin in einem Bestattungsinstitut arbeitet, usw. Aber sie mucken nicht mehr auf, diese ganzen Helden, wie es ihre Vorfahren getan haben. Sie sind zur Büttel- und Agentenarbeit gepreßt. Sie beschützen die Reichen und verfolgen die Armen. Auch wenn sie dabei wahnsinnig werden, und mit ihnen die Zeichner und Texter solcher Serien. Der Leser will das Aufmucken gegen die diktierte, gegen die beherrschte Wirklichkeit, gegen eine Wirklichkeit, auf die er keinen Einfluß hat, er will das wenigstens im Traum. Und die Helden wollen das eigentlich auch, aber sie dürfen nicht. Also werden die dramaturgischen Tricks immer komplizierter, die Vermischung der Freund-und-Feind-Positionen immer verwirrender. Um eine Geschichte anzureißen, werden Kapitalistenfiguren ins Unrecht gesetzt, als Bösewichte durch die Geschichte gejagt, um sich am Schluß als unschuldig herauszustellen (an irgendeinem kleinen Gauner bleibt dann alles hängen).

Die Jets werden gejagt von Rose der Rächerin, die Jets haben zwar das Image des Jet-Sets, aber sie sind eine hundertköpfige Gangsterbande, deren Einfluß nicht abschätzbar ist. Und selbst Donald Duck gerät immer wieder in den Konflikt, der durch die Bedürfnisse der Leser und die Klasseninteressen der Produzenten entsteht. Donald, nachdem er wieder einmal von seinem reichen Onkel um einen anständigen Lohn geprellt worden ist: "Onkel Dagobert schikaniert einen schier zu Tode. Je älter er wird, desto unleidlicher wird er." Und nachdem beide, Donald und Dagobert, noch einmal die Schule besucht haben, um ihr Bildungsdefizit nachzuholen, wird Donald von der Lehrerin in die nächste Stunde gezerrt, während Dagobert durch den Bürgermeister vom Schulhof komplimentiert wird, um von der Stadt einen Ehrendoktor verliehen zu bekommen. Donald denkt sich zu dieser Szene: "Dritter Bildungsweg! ja wer hat, der hat!"

Krash!

Und so kommen sie fast alle irgendwann ins Grübeln und geraten in Situationen, in denen selbst die Traum- und Wunschwelt ungemütlich wird. Dem Leser gefällt das gar nicht, aber die totale Schönfärberei kann er erst recht nicht leiden; dieses "möglich wär's" in seinen verschiedenen Abstufungen muß erhalten bleiben. Und so gibt es laufend Turbulenzen im ganzen Träumereservat. Die einen wollen nur noch Lustiges, gänzlich Harmloses lesen (was ihnen wieder zu harmlos wird), die anderen haben von der ganzen Mischung die Nase voll und wollen Abenteuer im realistischen Gewand (Zack bietet zur Zeit solche Leseware).

Aber auch auf diesem Gebiet hat das System die allergrößten Schwierigkeiten und verschleißt deshalb ein dramatisches Genie nach dem anderen. Rex Danny, der Bomberpilot bei der US-Luftwaffe, ist ein gutes Beispiel dafür, wie hier die Comic-Produzenten damit kämpfen, dem Leser realistische Abenteuer vor Augen zu führen, ohne dabei endgültig das moralische Tarnmäntelchen zu verlieren, immer wieder bekommt es Löcher und der nackte US-Imperialismus blinkt hindurch. Interventionen der US-Armee in Lateinamerika, die keine Interventionen sind, sondern das Produkt unglücklicher Zufälle. Niederschlagung von Revolutionen, die keine Revolutionen sind. Atombomben auf Südamerika, die keinen Zünder haben usw.

Was in den Fernsehserien schon seit längerer Zeit gang und gäbe ist, fängt jetzt auch auf dem Comic-Book-Markt an. Die alten naiven Dramaturgien kommen nicht mehr an. Der Leser weiß mehr, als die Fiktionproduzenten noch verschleiern können. Allzuoft sagt der Leser oder Zuschauer: "das ist unmöglich" oder "so ist es". Zauberkunststücke, deren Tricks enttarnt sind, sind keine Zauberkunststücke mehr. Langfristig haben die Fiktionsmacher keine Chance, denn machen sie ihre Träume wahrhaftiger, dann müssen sie Däumling und Dummerling von einer besseren Welt träumen lassen, in der Däumling und Dummerling das Sagen haben, und sie müssen dafür sorgen, daß Superman auf der richtigen Seite, auf der Seite des Lesers, etwas Gutes tut - ohne faule dramaturgische Tricks. Er könnte ja mal die Machenschaften eines weltweiten Konzerns, der in Amerika seinen Hauptsitz hat, aufdecken. Aber das geht gegen das Klasseninteresse und gegen den Code-Authority, den sich die Comicmacher in Amerika gegeben haben (einen Moralcodex, der bei der Herstellung von Comics beachtet werden muß). Er verbietet zwar die Darstellung solcher Szenen, wie sie in den Grimmschen Märchen vorkommen, wo sich böse Stiefmütter in glühenden Eisenpantoffeln zu Tode tanzen müssen, er gebietet aber auch:

§ 3: "Polizisten, Richter, Regierungsbeamte oder ehrbare 1nstitutionen dürfen nie in einer Art und Weise dargestellt werden, die Respektlosigkeit gegenüber der etablierten Autorität erwecken könnte."

Also werden sie den wild gewordenen Kleinbürger Porky Dick aus der Schweinchen-Dick-Schau und seine wahnsinnigen Kumpane weiter mit Sprengstoff und Dynamit hantieren lassen! Straßenkampf jeder gegen jeden. Hier kommt das noch als Fiktion an, der amerikanische Konsument erlebt es bereits in der Wirklichkeit.

Die in diesem Artikel notierten Einschätzungen vom Umgang mit Spielzeug und von Spielgewohnheiten basieren auf den Erfahrungen, die das Hoffmanns Comic Teater im Spielclub Kulmerstraße gemacht hat. Dieses Projekt, an dem sich das H. C. T. zwei Jahre beteiligte, wurde von der Arbeitsgemeinschaft Spielumwelt in der Berliner Neuen Gesellschaft für bildende Kunst in Zusammenarbeit mit der PH Westberlin durchgeführt. Es stellte einen ersten Versuch dar, eine neue Konzeption von Freizeiteinrichtungen für Arbeiterkinder zu entwickeln. Die an dem Projekt beteiligten Kinder waren in der Mehrzahl 8 bis 12 Jahre alt.

Die Abschnitte I und II unseres Artikels stammen aus einem der beiden Hefte, in denen die Arbeitsgruppe ihren Bericht über dieses Projekt herausgebracht hat. Heft I "Fest im MV" und Heft 2 "Fest" beschreiben ein Gesellschaftsspiel auf einem Bauspielplatz in Berlin-Schöneberg und im Märkischen Viertel und geben die Erfahrungen, die im Spielclub Kulmerstraße gemacht wurden, wieder. Sie sind zu beziehen über die Kontaktadresse: Philipp Fountis, I Berlin 36, Oranienstr. 188 (Heft I DM 5,-; Heft 2 DM 10,-). Der III. Teil "Fiktion-Konsum" wurde für den Kursbuch-Artikel neu geschrieben. Im Rahmen dieses Artikels war es unmöglich, das umfangreiche Thema voll auszuschöpfen. Deshalb konnten wir hier nur die gröbsten Umrisse des Umgangs mit Fiktionen aufzeichnen.

Anmerkungen

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Kursbuch 34 zum Thema "Kinder". Rotbuch Verlag, Berlin 1973 (mit freundlicher Genehmigung von Peter Möbius).
Der Text, der auf den ersten Blick nichts mit den Scherben zu tun hat, ist insofern interessant, als das das Hoffmann's Comic Teater der Ausgangspunkt für die Band Ton Steine Scherben war. Somit wird deutlicher, welchen Hintergrund die Band hat. Auf der Rückseite des Kursbuches wird übrigens für die Kinderplatte "Herr Freßsack und die Bremer Stadtmusikanten" von Hoffmann's Comic Teater und Ton Steine Scherben geworben.
Das fehlende "h" im Wort "Teater" ist übrigens Absicht.
Lesezeichen setzen:
Kommentare

noch keine Kommentare
Kommentar schreiben



Kommentare werden von uns überprüft, bevor sie auf der Seite erscheinen.

Zeig uns bitte, dass Du keine Maschine bist

Gib bitte hier Deinen Namen rückwärts und ohne Leerzeichen ein: